Der Hochzeitstag war gekommen. Er half ihr, das Brautkleid anzuziehen. Eigentlich durfte er sie nicht sehen. Das brachte Unglück. Aber das Kleid war zu groß, und mit ihren zitternden Händen schaffte sie es nicht, die Riemen zu schnüren. Auch das Schminken musste er übernehmen. Das störte ihn nicht. Im Gegenteil. Es steigerte seine Vorfreude, sie für die Trauung herzurichten.
„Du siehst wunderschön aus“, sagte er, als sie fertig war.
Vor dem Spiegel straffte er sein Jackett und rückte die Fliege zurecht. Er machte in dem schwarzen Anzug keine schlechte Figur. Sie würden das perfekte Brautpaar abgeben.
Er verhüllte ihr Gesicht mit einem Schleier, der nach Mottenkugeln roch. Fast verdeckte er die Angst in ihren Augen.
„Aufgeregt zu sein, ist normal“, sagte er. „Keine Sorge, bei mir bist du in guten Händen.“
Er reichte ihr ein Bouquet aus weißen Rosen. Zum Hochzeitsmarsch traten sie vor den Altar. Feierlich vollzog er die Zeremonie. Sie weinte, und er musste laut sprechen, um sie zu übertönen. Er nahm es ihr nicht übel. Der ergreifende Moment rührte auch ihn.
„Willst du mich zu deinem rechtmäßig angetrauten Ehemann nehmen, mich lieben und ehren in guten wie in schlechten Zeiten, bis dass der Tod uns scheidet?“
Sie bekam die Worte nicht heraus. Er musste noch einmal fragen. Nachdrücklich.
„Ja“, stieß sie hervor. „Ich will.“
Der Ring war zu eng. Sie schrie, als er ihn auf ihren Finger schob. Der eingravierte Name war nicht ihrer. Es war der Name einer Toten.
„Hiermit erkläre ich uns zu Mann und Frau.“
Er schlug den Schleier zurück. Ihr Gesicht war nass von Tränen, das Make-up zerlaufen. Er zog sie an sich und küsste seine Braut.
Auf der Treppe mussten sie achtgeben, nicht auf den Saum des Kleids zu treten. Er machte einen Scherz darüber. Nach der Hochzeit war er immer aufgekratzt. Sie lachte nicht, ging wackelig, er musste sie festhalten, damit sie nicht stürzte. Oben hob er sie auf. Sie wand sich in seinen Armen. Er unterband das. Traditionen waren wichtig. Vorsichtig, damit sie sich nicht den Kopf stieß, trug er sie ins Schlafzimmer. Sie wehrte sich nicht mehr, als er sie auf das Ehebett legte.
Die Rosen stellte er in die Blumenvase auf dem Nachttisch. Um die Vase lagen verwelkte Blütenblätter vom letzten Mal. Der Schleier, den er ihr jetzt abnahm, war an mehreren Stellen eingerissen. Auf dem Brautkleid prangten verwaschene Blutflecke, die er nicht rausgekriegt hatte. Sorgsam zog er es ihr aus und hängte es an einem Kleiderbügel an die Schranktür. Es sollte nicht zerknittern. Er wusste nicht, wann er es wieder brauchte.
Er streifte das Jackett ab, knöpfte das Hemd auf und stieg aus den Schuhen. Dabei summte er. Seine Frau wandte sich ab, als er sich zu ihr legte. Ihre Schultern bebten. Wimmernd krümmte sie sich zusammen und schlang die Arme um ihren nackten Körper. Sanft, aber bestimmt drehte er sie zu sich um.
„Bitte nicht“, schluchzte sie. „Bitte nicht.“
Er streichelte ihr Haar, küsste ihre Wange.
„Sei nicht traurig“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Es ist doch unsere Hochzeitsnacht.“
1
„Goldene Hochzeit. Wow!“
Noras Ausruf, verstärkt vom Mikrofon, hallte durch den Saal mit seinen holzgetäfelten Wänden und der hohen Balkendecke.
„Fünfzig Jahre Ehe, fünfzig Jahre gemeinsame Erlebnisse, fünfzig Jahre Vertrautheit und Verbundenheit.“
Ihre Großeltern, er im dunkelblauen Anzug, sie im beigefarbenen Kleid, saßen Hand in Hand unter dem Banner, auf dem ihre Namen, Joseph und Lydia, in goldenen Buchstaben glänzten.
„Städte, in denen ihr gelebt, Reisen, die ihr unternommen, Abenteuer und Herausforderungen, die ihr miteinander gemeistert habt. Begegnungen, Bekanntschaften, Freundschaften und Familie.“
Mit einem Schwung des Mikrofons wies Nora auf die Frauen, Männer und Kinder, die einen Halbkreis um sie und die Jubilare bildeten. Wie Nora in ihrer saphirblauen Anzughose und Satinbluse hatten sich alle in Schale geworfen.
„Der ganze Siegel-Clan ist froh und dankbar, mit euch diese prall gefüllten fünfzig Jahre zu feiern. Jetzt würde ich euch bitten, diese Feier mit dem ersten Tanz zu eröffnen.“
Unter donnerndem Applaus erhoben sich Joseph und Lydia und umarmten Nora. Ihr Großvater lehnte sich zum Mikrofon.
„Vielen Dank, liebe Nora. Das war eine wunderschöne Rede. Wir sind auch ungeheuer froh, euch bei uns zu haben. Danke, dass ihr gekommen seid.“
Seine Frau legte einen Arm um ihn.
„Dann los, Schatz. Schwingen wir die künstlichen Hüften.“
Mehr Beifall und Gelächter begleiteten sie auf die Tanzfläche. Der DJ, ein stämmiger Typ mit rekordverdächtigem Schnauzbart, legte Dancing Queen von ABBA auf. Noras Großeltern, beide über achtzig, machten dem Song alle Ehre. Leichtfüßig fegten sie über das Parkett, drehten Pirouetten, warfen lachend die Köpfe mit den silbergrauen Haaren zurück. Es dauerte nicht lange, bis sich Paare und einzelne Tänzerinnen und Tänzer zu ihnen gesellten.
Nora reichte dem DJ das Mikrofon. Jemand drückte ihr ein Sektglas in die Hand. Abseits der Tanzfläche standen Gäste in kleinen Gruppen zusammen, tranken, aßen vom Büfett und plauderten. Immer wieder stieß jemand mit Nora an und dankte ihr für die gelungene Feier. Als Architektin, die nicht nur Wohnhäuser, sondern auch Firmenzentralen, Museen und Theater plante, galt sie in der Familie als erste Anlaufstelle, wenn etwas Größeres organisiert werden musste. Sie hatte die Aufgabe gern übernommen. Mit ihren Großeltern verband sie ein besonderes Verhältnis. Nach der Scheidung ihrer Eltern hatten sie mit ihrer unzerrüttbaren Ehe für Nora immer ein Stück heile Welt bedeutet.
Nach gründlicher Recherche hatte sie das Landhotel Waldlicht in der Nähe von Jork gefunden, Zimmer für das lange Wochenende reserviert, einen DJ und einen Cateringservice aufgetrieben. Seit dem Eintreffen ihrer zahlreichen Verwandtschaft war sie Ansprechpartnerin für alle Angelegenheiten, hatte allerlei Probleme behoben und dafür gesorgt, dass von den Ausflügen bis zum Kaffeeklatsch alles reibungslos lief. Die gute Stimmung entschädigte sie für die Anstrengung. Ihre Großeltern glücklich tanzen zu sehen, war jede Mühe wert.
„Irgendwann sind wir das.“
In ihrer Ergriffenheit hatte sie nicht bemerkt, wie Steffen zu ihr getreten war.
Er wies mit einer Flasche Pils auf Opa Joseph und Oma Lydia. „Grau und runzelig und immer noch bis über beide Ohren verliebt.“
Nora lachte. „Klar. Sechs Monate, bis wir heiraten. Danach sind es bloß noch schlappe fünfzig Jahre.“
„Ach, die werden wie im Flug vergehen.“
„Hast du es so eilig, alt zu werden?“
Es fiel ihr schwer, sich Steffen als Greis vorzustellen, seine sportliche Statur gebeugt, sein rötliches Haar weiß und schütter, sein Lächeln mit dritten Zähnen. Auch sie selbst hatte nur wenige Falten um die dunkelbraunen Augen und noch keine grauen Strähnen in ihrem haselnussbraunen Haar, das sie zum heutigen Anlass hochgesteckt trug. Um einen Seniorenausweis brauchte sie sich mit Ende zwanzig in absehbarer Zeit jedenfalls nicht zu kümmern.
„Wenn ich das mit dir tun kann.“ Er legte einen Arm um sie und küsste ihre Schläfe. „Ich freue mich darauf, mit dir Enten im Park zu füttern, Kaffeefahrten zu unternehmen und Falschparker anzumeckern.“
„Klingt traumhaft.“ Nora hob ihr Sektglas. „Auf Enten und Falschparker!“
„Prost!“
Sie stießen an. Fünfzig Jahre. Nora zweifelte nicht, dass sie es schaffen würden. Sie liebten einander über alles, waren seit sieben Jahren ein starkes Team. Sie verdienten anständig in soliden Jobs, sie selbstständig, er als Projektleiter in einem IT-Unternehmen. Optimale Voraussetzungen, um eine Familie zu gründen. Nora war überzeugt, dass sie eine lange und glückliche Ehe führen würden.
Im Gegensatz zu ihren Eltern. Sie hatten es bloß bis zur Porzellanhochzeit gebracht, bevor sie sich getrennt hatten. Gerade noch rechtzeitig, dachte Nora. Sonst hätte keiner von ihnen diese Ehe überlebt. Obwohl die Scheidung zwölf Jahre zurücklag und trotz der zwei Kinder, die sie miteinander hatten, hatten sie niemals Frieden geschlossen. Wie üblich bei solchen Zusammenkünften hielten sie Abstand voneinander, ihre Mutter, schrill und laut in buntem Kleid, auf der einen Seite des Saals, ihr Vater, düster brütend im schwarzen Jackett, auf der anderen.
„Was ist denn da los?“, fragte Steffen. „Ach, Andi. Wer sonst?“
Auf der Tanzfläche brach ein Tumult aus. Noras Großeltern gönnten sich eine Pause. Dafür sprang Andi, Noras Cousin, wild zu It’s My Life von Dr. Alban herum. Der braune Anzug schlotterte an dem Schlaks. Sein blondes Zottelhaar wippte, während er stockbesoffen headbangte und herumhampelte, sodass alle vor seinen wirbelnden Gliedmaßen in Deckung gingen. Manche lachten. Andere schüttelten den Kopf. Auch verärgerte Rufe wurden über der Musik laut. Überrascht, dass Andi über die Stränge schlug, war niemand.
„In fünfzig Jahren“, sagte Steffen, „ist vielleicht sogar er ein bisschen gesetzter.“
„Da würde ich nicht drauf wetten. Auf unserer Hochzeit sollten wir ihn zu Mineralwasser und Saft verpflichten.“ Nora seufzte. „Ich erteile ihm besser Tanzverbot, bevor jemand ernsthaft verletzt wird.“
„Warte, das brauchst du nicht. Sofie regelt das.“
Aus dem Kreis, der sich um die Tanzfläche gebildet hatte, trat eine junge Frau in sonnengelbem Kleid. Ihr braunes Haar, etwas heller als Noras, fiel ihr hüftlang auf den schlanken Rücken. In ihren kornblumenblauen Pumps näherte sie sich Andi und fischte seine fliegenden Hände aus der Luft. Verdutzt hielt er inne. Sie sprach mit ihm. Er lächelte und nickte. Sofie hielt ihn fest, als sie wieder in den Tanz einstiegen, verhinderte, dass er andere Leute anrempelte, stürzte oder das Büfett umriss. Die Tanzfläche füllte sich wieder. Die heitere Stimmung kehrte zurück.
„Bestens geregelt“, sagte Steffen.
„Darin war Sofie immer gut“, sagte Nora. „Sie könnte selbst einen tobenden Gorilla dazu bringen, friedlich am Daumen zu nuckeln.“
In ihrem leuchtenden Gelb stach Sofie aus der Menge heraus. Nora fühlte sich beim Tanzen steif und ungeschickt. Sofie hingegen hüpfte fröhlich mit Andi herum, sodass ihr das Haar ins Gesicht schlug, und sang aus voller Kehle mit. Beim Anblick ihrer kleinen Schwester musste Nora an Cinderella denken. Ein Druck breitete sich in ihrer Brust aus, als wollte jemand ihr Herz in der Faust zerquetschen.
„Quäl dich nicht länger“, sagte Steffen. „Rede mit ihr. Es wird schon gut gehen.“
Nora war dankbar, in Steffen ihren Seelenverwandten gefunden zu haben, der sie besser kannte als jeder sonst und immer wusste, was in ihr vorging. Gerade passte ihr das gar nicht.
„Ich weiß nicht“, wand sie sich. „Ich meine, das werde ich. Ich warte auf den richtigen Zeitpunkt.“
Das tat sie schon die ganzen letzten Tage. Zumindest sagte sie sich das. In Wahrheit hatten ihr die vielen Erledigungen als willkommene Ausrede gedient, um sich davor zu drücken. Je länger Nora es aufgeschoben hatte, desto schwerer war es geworden. Dabei lief ihr die Zeit davon. Nach der Goldhochzeit würden Monate, vielleicht Jahre vergehen, bis sie Sofie wiedersah. Diese Angelegenheit war nichts, was sie telefonisch klären konnte.
„Ich verstehe, wie schwierig das für dich ist.“ Steffen drückte ihre Hand. „Und dass du auf den richtigen Zeitpunkt warten möchtest. Aber warte nicht, bis du ihn verpasst hast.“
„Du hast recht“, gab sie zu. „Es ist nur … das war wirklich schlimm damals. Was, wenn sie mir nicht verzeihen kann?“
„Das wird sie ganz sicher. Falls nicht, hast du es wenigstens versucht.“
Das stimmte zwar. Allerdings zweifelte Nora, ob sie den Mut dafür fand.
2
Nora brauchte eine Stunde und zwei weitere Gläser Sekt, bis sie bereit war. Die Party hatte Fahrt aufgenommen. Der Bartender, ein schmales Bürschchen und viel zu jung für seine Halbglatze, entkorkte Flaschen am laufenden Band. Auf der Tanzfläche herrschte dichtes Getümmel. Gesang und Gelächter mischten sich mit der Musik. Der DJ jagte einen Hit nach dem nächsten in die Menge. Die Scheinwerfer seiner Lichtanlage flackerten blau, grün, gelb und rot durch den Saal. Dazu trieb er die Gäste an wie ein Kirmesansager.
„Jawoll, Herrschaften! Schwingt die Hüften, schwingt die Beine, zusammen oder auch alleine!“
Nora hielt nach Sofie Ausschau. Sie hatte die Tanzfläche verlassen. Nora entdeckte sie am anderen Ende des Saals inmitten einiger jüngerer Cousinen und Cousins. Sie schwatzten, scherzten, warfen sich für Handyfotos in Pose. Jeder wollte ein Erinnerungsbild mit Sofie, bevor sie demnächst ins Ausland ging. Nachdem sie ein Freiwilliges Soziales Jahr in einer integrativen Betreuungseinrichtung für Jugendliche absolviert hatte, würde sie in ein paar Tagen nach Bolivien fliegen, um für eine Wohltätigkeitsorganisation beim Aufbau einer Schule in einer ländlichen Gegend zu helfen. Anschließend würde sie nach Brasilien reisen.
Nora fasste sich ein Herz. Sofie und sie waren Schwestern. Was immer zwischen ihnen stand, konnten sie aus der Welt räumen.
Als sie sich durch die Menge wühlte, fiel ihr auf, dass noch jemand Sofie nicht aus den Augen ließ. Einer der Kellner, ein durchtrainierter Typ mit schwarzem Haar, hielt sich beharrlich in ihrer Nähe. Während er auffällig langsam leere Gläser einsammelte und benutztes Geschirr auf seinem Tablett stapelte, schielte er immer wieder zu ihr rüber. Das wunderte Nora nicht. Sofie war eine attraktive junge Frau, deren lebenslustige Art sie noch anziehender machte. Aber dieses Verhalten war nicht nur unpassend, weil er einen Job zu erledigen hatte. Er war auch mindestens zwanzig Jahre älter als Sofie.
Kurz bevor Nora die Gruppe erreichte, drehte sich der Kellner um und steuerte den Durchgang zur Küche an. Da er dabei erneut zu Sofie rüberschaute, prallte er beinahe mit Nora zusammen. Es fehlte nicht viel und das Tablett samt Gläsern und Tellern wäre auf den Boden gekracht.
„’tschuldigung.“ Er wollte sich an ihr vorbeidrücken.
Nora stellte sich ihm in den Weg.
„Vielleicht sollten Sie sich auf Ihre Arbeit konzentrieren, statt junge Frauen anzuglotzen.“ Dass er ausgerechnet ihre kleine Schwester ins Visier nahm, reizte sie zusätzlich. „Dafür werden Sie schließlich nicht bezahlt.“
Seine breiten Schultern spannten das weiße Hemd, das er unter einer schwarzen Weste trug. An den Armen, die das schwere Tablett hielten, wölbte sich der Bizeps. Sein Seitenscheitel war so streng wie der Rest seines Gesichts. Seine blaugrauen Augen, kühl und hart, taxierten Nora. Sie hielt seinem Blick stand. Nach ihrer Kindheit und Jugend mit einem jähzornigen Vater hatte sie beschlossen, sich nie wieder von einem Mann einschüchtern zu lassen. Außerdem hatte sie durch ihre Arbeit auf Baustellen reichlich Übung darin, sich gegen Typen zu behaupten, denen Anweisungen von Frauen gegen den Strich gingen. Sie wappnete sich für ein Wortgefecht. Doch der Kellner hatte offenbar keine Lust, sich mit ihr anzulegen.
„Wie Sie meinen.“
Er schob sich an ihr vorbei und verschwand im Gewühl.
„Arschloch“, murmelte Nora.
Wenn der Kerl seine Unverschämtheiten weiter trieb, würde sie sich bei der Hotelleitung beschweren. Jetzt ging es erst mal um Sofie und sie.
Als sie zu den Cousinen und Cousins stieß, war Sofie nicht mehr da.
„Habt ihr meine Schwester gesehen?“, fragte Nora.
Sie schüttelten die Köpfe oder zuckten mit den Schultern.
„Ich glaub, sie ist da rüber“, meinte eine mit vager Geste.
Nora konnte Sofie weder auf der Tanzfläche noch an der Bar oder am Büfett ausmachen. Wahrscheinlich war sie auf die Toilette gegangen. Dahin würde Nora ihr nicht folgen. Vielleicht war eine Aussprache auf der Feier sowieso keine gute Idee. Es war besser, am nächsten Tag mit Sofie zu reden, nüchtern, ganz unter sich. Nach dem Abschlussfrühstück, wenn der erste Gästeschub das Hotel verlassen hatte, würden sie bestimmt ein wenig Zeit und Ruhe füreinander finden.
Nora brauchte eine Pause von dem Trubel. Sie holte ihren Blazer, den sie über einen Stuhl gehängt hatte, sagte Steffen, dass sie frische Luft schnappen ging, und verließ den Saal.
3
Durch den rückseitigen Ausgang des Hotels gelangte Nora in den Garten. Das mattgelbe Licht der Laternen beleuchtete Bäume, Sträucher und Blumenbeete, die Stühle und Liegen, auf denen die Hotelgäste tagsüber ausspannen konnten. Jetzt war niemand hier. Die Musik und die Stimmen drangen aus dem Festsaal herüber. Mit jedem von Noras Schritten wurden sie leiser. Bald waren sie bloß noch ein fernes Gemurmel in der Stille des Gartens.
Eine hüfthohe Mauer aus Feldsteinen umschloss ihn. Die Nachtluft duftete nach feuchtem Gras und reifen Äpfeln. Im Dunkeln jenseits der Mauer erstreckte sich die Weite des Alten Landes, seine Obstwiesen und Wälder, Flüsse, Deiche und Moore.
Von hier, der Marsch südlich der Elbe, stammten ihre Großeltern. In kleinen Dörfern waren sie aufgewachsen, hatten einander kennengelernt und geheiratet. Bald nach ihrer Hochzeit hatte es sie nach Hessen und später nach Bayern verschlagen. Es war zwischen ihnen abgemacht gewesen, dass sie irgendwann in ihre Heimat zurückkehren würden. Bis zum Rentenalter hatte Josephs Arbeit in einem Farbenwerk sie daran gehindert, danach seine Darmkrebserkrankung. Erst vor Kurzem hatten sie nach seiner erfolgreichen Chemotherapie endlich übersiedeln können. So feierten sie mit ihren Verwandten diese Tage nicht nur ihre Goldhochzeit, sondern auch Josephs Genesung und ihre lang erwartete Rückkehr ins Olland.
Dieser plattdeutsche Name, den ihre Großmutter immer mit so viel Liebe und Sehnsucht ausgesprochen hatte, besaß für Nora seit ihrer Kindheit einen magischen Klang. Sie liebte es, ihre Oma in dieser Mundart reden zu hören, die sie bald gut verstand, ohne sie sprechen zu können.
Einmal war Nora hier gewesen, als kleines Mädchen mit ihren Eltern und Großeltern. Daran erinnerte sie sich kaum. In den vergangenen Tagen hatte sie das Alte Land neu für sich entdeckt. Auf Radtouren durch die herrliche Landschaft besuchten sie und ihre Verwandten mehrere Gehöfte entlang der Obstroute. Sie bewunderten die mit Tiersymbolen und Segenssprüchen verzierten Prunkpforten der Höfe, die Bauernhäuser im Altländer Buntmauerfachwerk, die kunstvollen Brauttüren, die traditionell nur zu zwei Anlässen geöffnet wurden – um die Braut hinein- oder Verstorbene hinauszutragen. Während sie Äpfel und Kirschen aus den Hofläden gegessen hatten, hatten Nora und Steffen darüber gescherzt, auch ihre Kölner Wohnung mit einer auszustatten. Auf jeden Fall würden sie sich eine der Hochzeitsbänke fertigen lassen, die versehen mit den Namen der Eheleute und dem Datum ihrer Heirat vor den Häusern standen. Dieses Denkmal ihres Festtags würden sie allerdings auf den Balkon stellen müssen. Einen Garten mit alten Obstbäumen hatten sie leider nicht. Aber vielleicht, dachte Nora, während sie die Ruhe und die Düfte der Nacht in sich aufnahm, werden auch wir eines Tages im Alten Land ansässig.
„Na, keinen Bock mehr auf die Party?“
Nora fuhr zusammen. Zum einen weil sie nicht allein war, wie sie geglaubt hatte. Zum anderen weil ausgerechnet Sofie nahebei auf der Mauer saß.
4
Das Halbdunkel des Gartens verbarg Sofie. Aber unterhalb der Jacke, die über ihren Schultern hing, schimmerte ihr gelbes Kleid. Nora hätte sie bemerkt, wenn sie nicht so in Gedanken vertieft gewesen wäre.
„Ich musste mal durchatmen“, sagte sie.
Sofie trank aus der Bierflasche, die sie in der Hand hielt. „Ich auch. Witzig, dass wir uns in dem Riesengarten genau die gleiche Stelle ausgesucht haben. Muss schwesterliche Telepathie sein.“
Sofie ließ locker die Beine von der Mauer baumeln. Doch Nora merkte auch ihr die Befangenheit an, die ihr den Magen zusammenkrampfte. Ein Teil von ihr wollte zurück ins Hotel flüchten. Andererseits war das die Gelegenheit, auf die sie gewartet hatte.
„Sagt man das nicht über Zwillinge?“
Zwillinge waren sie nicht. Dass sie Schwestern waren, sah man dagegen auf den ersten Blick. Beide hatten sie die braunen Augen ihres Vaters und die längliche Gesichtsform ihrer Mutter. Manchmal konnte Nora nicht anders, als in Sofie eine jüngere und wildere Version von sich selbst zu erkennen, die sich schon mal knallbunte Strähnen in die Haare färbte oder eine Weile ein Piercing in der Nase getragen hatte. Nora hatte sich gefragt, ob Sofie dadurch einen deutlichen Unterschied zwischen ihnen schaffen wollte, damit sie bloß niemand verwechselte.
„Ach, klar. Zwillinge.“ Sofie stellte die Flasche auf die Mauer. „Wahrscheinlich haben wir so was deshalb nicht.“
„Eine Zeit lang hatten wir etwas Ähnliches“, sagte Nora.
Trotz ihrer sechs Jahre Altersunterschied waren sie als Kinder unzertrennlich gewesen. Sofie lief Nora überallhin nach, wollte alles tun, was sie tat. Nora war stolz, eine große Schwester zu sein, baute mit Sofie Bauklotztürme, schaukelte mit ihr auf dem Spielplatz, las ihr vor. Selbst in der Pubertät verstanden sie sich gut, auch wenn sie sich in völlig andere Richtungen entwickelten. Sofie fuhr Skateboard und feierte auf Hiphoppartys. Nora war im Badmintonverein und ging ins Theater. Während sie zielstrebig aufs Architekturstudium zusteuerte, blieb Sofie ein Freigeist. Ihre schwesterliche Verbundenheit überstand selbst die ersten Jahre nach der Scheidung. Über Hunderte Kilometer hielten sie per Telefon, E-Mail und WhatsApp Kontakt. Doch letzten Endes hatte das Zerbrechen ihrer Familie auch sie auseinandergerissen.
„Ja“, sagte Sofie. „Eine Zeit lang.“
Sie fielen in Schweigen. Trotz ihres Blazers fröstelte Nora in der Herbstkälte. Sofie, obwohl leichter angezogen, schien sie nichts auszumachen. Sie kramte eine Schachtel Lucky Strike aus der Jackentasche und zündete sich eine an. Die Flamme des Feuerzeugs beleuchtete ihr Gesicht. Das Gesicht einer jungen Frau, die nach Südamerika gehen, Abenteuer erleben, sich fern der Heimat großen Herausforderungen stellen würde. Gleichzeitig, dachte Nora, immer noch das Gesicht eines Mädchens.
„Ich wusste nicht, dass du rauchst.“ Sich als große Schwester aufzuspielen war keine gute Fortsetzung. Aber etwas Besseres fiel Nora nicht ein.
Sofie nahm einen tiefen Zug und stieß den Rauch in einer Wolke aus.
„Nur dann und wann beim Feiern.“ Sie hielt Nora die Zigarette hin. „Willst du?“
Nora rauchte nicht. Doch bei dem, was sie besprechen mussten, teilten sie besser schon vorher die Friedenspfeife. Nora nahm die Zigarette, setzte sich neben Sofie auf die Mauer und zog, ohne zu inhalieren. Sie gab Sofie die Lucky zurück, die ihr dafür die Bierflasche reichte. Vom Hotel waberten die Geräusche der Feier herüber. Vor ihnen lagen die Dunkelheit und Stille von Wiesen und Wald.
„Echt schön, die Goldhochzeit“, sagte Sofie. „Hast du super hingekriegt. Oma und Opa sind voll happy.“
In den letzten Jahren hatte es wenig mehr als Small Talk zwischen ihnen gegeben, sicheres Terrain, auf dem sie tun konnten, als wäre zwischen ihnen alles in bester Ordnung.
„Ja, sie freuen sich riesig, uns alle um sich zu haben.“
Nora trug eine Perlenkette, Ohrringe und ihren Verlobungsring. Sofies Schmuck bestand aus geflochtenen bunten Bändern um ihr Handgelenk und einem Mondamulett, das an einer schlichten Kordel um ihren Hals hing. Auf ihrem Unterarm formten die feinen Linien eines Tattoos einen Vogel mit ausgebreiteten Flügeln.
„Sogar unsere Eltern reißen sich zusammen“, sagte Nora.
Sofie runzelte die Stirn. Das war kein sicheres Terrain mehr. Nora war überrascht, als ihre Schwester darauf einging.
„Ausnahmsweise.“ Sie drückte die Zigarette auf der Mauer aus. „Die meiden einander zwar wie zwei Leprakranke, die Schiss haben, sich beim anderen anzustecken. Wenigstens springen sie sich nicht an die Gurgel.“
„Stimmt. Eine nette Abwechslung.“
Sie konnten es dabei belassen, einfach hier sitzen und die Ruhe genießen. Warum riskieren, dass die dünne Verbindung zwischen ihnen brach?
Weil das Thema, dachte Nora, sonst immer zwischen uns stehen wird.
„Hör mal, Sofie. Ich wollte mir dir über etwas reden. Etwas, über das wir längst hätten reden sollen.“
„Oh-oh. Was kommt denn jetzt?“
Sofies Schultern verspannten sich, widersprachen ihrem lässigen Tonfall.
„Wir haben nie darüber geredet, wie das nach der Scheidung gelaufen ist.“
Sofie rutschte unbehaglich auf den Mauersteinen hin und her. „Und?“
„Als die Ältere hätte ich das ansprechen müssen. Aber ich wusste nicht, wie ich es anstellen sollte. Darum habe ich es ständig aufgeschoben. Das will ich nicht mehr, wo du bald fortgehst.“
„Ich verschwinde ja nicht auf Nimmerwiedersehen. Ich komme wieder.“
Es war ein Angebot, ihnen einen weiteren Aufschub zu gewähren, am besten einen so langen, bis alles vergessen war.
„Schon.“
Es würde nie vergessen sein. Wenn Nora es aus der Welt schaffen wollte, war das der einzige Weg. Es lag nicht allein daran, dass Sofie ins Ausland reisen würde, sondern auch an ihrer bevorstehenden Hochzeit. Es hätte sich nicht richtig angefühlt, eine neue Familie zu gründen, ohne die Probleme ihrer alten bereinigt zu haben. Ihre Eltern konnte sie nicht wieder zusammenbringen. Vielleicht konnte sie sich wenigstens mit ihrer Schwester versöhnen.
„Es ist nur … Ich will nicht, dass du nach Südamerika fliegst, ohne zu wissen …“
„Was?“
Nora gab sich einen Ruck. „… wie leid es mir tut, was damals gelaufen ist. Angefangen damit, dass ich mit Mutter gegangen bin und du bei Vater bleiben musstest.“
Es war erleichternd, es auszusprechen, und gleichzeitig beängstigend. Wie würde Sofie es aufnehmen?
„Hm.“
Sofie stützte sich mit beiden Händen auf die Mauer und stieß die Hacken gegen die Feldsteine.
„Du warst ein Teenie. Klar, dass du aus Hochfeld rauswolltest. Außer einer miefigen Dorfkneipe hatte das Kaff nichts zu bieten, erst recht nicht für Jugendliche. Kein Club, keine Konzerte, nicht mal ein Kino. Als ich später in dem Alter war, habe ich es da auch kaum ausgehalten. Alles so eng und spießig. Wenn mir jemand die Chance gegeben hätte, stattdessen in Berlin oder einer anderen Großstadt zu wohnen, hätte ich mich genauso darauf gestürzt.“
Nora hatte sich nicht nur deshalb aus ihrem Heimatort rausgesehnt, sondern vor allem wegen ihrem Vater. Heute hatte sie ein abgeklärtes Verhältnis zu ihm. Damals war er für sie eine Schreckgestalt gewesen. Geschlagen hatte er sie nie. Dafür unterdrückte er sie mit Leistungsansprüchen und Forderungen, denen sie nicht gerecht werden konnte, mit cholerischen Anfällen über schlechte Noten oder sonstige Verfehlungen. Nora fühlte sich wie eine Gefangene in ihrem Elternhaus. Sein Umgang mit ihr war einer der Gründe für die Scheidung. Nora empfand sie als Befreiung. Für sie stand sofort fest, dass sie mit ihrer Mutter die Stadt wechseln würde.
Dass sie Sofie mitnahmen, duldete ihr Vater nicht. Nora war die Tochter gewesen, die er statt des erwünschten Sohns gekriegt hatte, eine Enttäuschung, die sie mit den besten Noten nicht aufwiegen konnte. Sofie hingegen war sein Goldschatz. Nicht ein einziges Mal erhob er ihr gegenüber die Stimme, nicht einmal nach einer Mathe-Fünf und wenn sie beim Schuleschwänzen erwischt worden war. Wenn er wütend war, brauchte sie ihn nur zu umarmen und auf die Wange zu küssen, und er war besänftigt. Manchmal verübelte Nora ihr diese Bevorzugung. Dabei wusste sie, es war nicht Sofies Schuld. Ohne sie umzuziehen, fühlte sich an, als würde sie Sofie ihrem Vater ausliefern. Sie fürchtete, sein Zorn könnte sich nun auch gegen sie richten. Doch Nora hatte für sich keinen anderen Weg gesehen.
Sie drehte die Bierflasche in den Händen. „Ich wollte dich nicht im Stich lassen.“
„Ach Quatsch.“
Nora versuchte, ihr ins Gesicht zu sehen. „Du warst nicht sauer auf mich?“
Sofie zuckte mit den Schultern. „Am Anfang schon. Aber auch nicht so richtig. Ich wusste ja, dass es so das Beste für alle war. Dad hätte dir sonst das Leben noch mehr zur Hölle gemacht. Oder ihr hättet euch die Köpfe eingeschlagen. Für mich ging es.“
Sie rieb ein Stück ihres Kleids zwischen den Fingern. Nora wartete, dass sie weitersprach.
„Ich meine, easy war es nicht“, sagte Sofie schließlich. „Er hat Mom für alles Schlechte in seinem Leben die Schuld zugeschoben. Als ihr weg wart, war er auch nicht glücklich. Im Gegenteil ist er noch ärger verbittert. Seine Wut hat mich nicht direkt getroffen. Trotzdem war sie da.“ Sie seufzte. „Ich schätze, das war für uns alle eine schwierige Zeit.“
„Das war sie. Aber so schwierig es war, so weit hätte es nicht kommen müssen. Nicht bis zur Eskalation.“
Trotz Telefonaten, Nachrichten und E-Mails hatte ihre Beziehung unter der Entfernung gelitten. Noras Einstellung zu ihrem Vater verhärtete sich, während Sofie ihm gegenüber verständnisvoll blieb. Bei einem Familientreffen gerieten sie darüber in einen gewaltigen Streit. Danach herrschte jahrelang Funkstille zwischen ihnen. Erst durch ihre Beziehung und die Gespräche mit Steffen wurde Nora klar, dass sie als Ältere die größere Verantwortung an dem trug, was zwischen ihnen schiefgelaufen war. Sie gratulierte Sofie wieder zum Geburtstag, schickte ihr Weihnachtsgrüße. Wenn sie sich sahen, wechselten sie wenigstens wieder ein paar Worte. Wirklich eng war ihr Verhältnis nie wieder geworden. Nora hatte Sofie eine Einladung zu ihrer Hochzeit geschickt. Sofie hatte nicht geantwortet. Jetzt wo feststand, dass sie an jenem Tag nicht in Deutschland sein würde, spielte das keine Rolle mehr. Zumindest konnten sie ihren Konflikt beilegen, bevor Sofie abreiste.
„Das war alles meine Schuld“, sagte Nora. „Ich hätte das anders handhaben müssen. Reifer.“
„Geh nicht so hart mit dir ins Gericht. Du darfst auch mal überfordert sein und nicht alles perfekt hinkriegen.“
„Trotzdem. Ich hätte mich besser um dich kümmern, für dich da sein müssen.“ Nora nahm ihre Hand.
Sofies Finger zuckten, doch sie zog sie nicht weg.
„Du bist meine kleine Schwester.“ Nora hatte Mühe, die Worte an dem Kloß vorbeizudrängen, der ihr den Hals verstopfte. „Aber erst war das alles so viel, dann habe ich mich nicht getraut, das anzusprechen. Ich hatte Angst, du würdest mich hassen.“
Sofie drückte ihre Hand.
„Ich könnte dich nie hassen. Ich meine, wir sind vielleicht keine Zwillinge“, sie lehnte den Kopf an Noras Schulter, „dafür immerhin Schwestern.“
Nora legte einen Arm um sie und drückte sie an sich. Tränen flossen über ihre Wangen. Auch Sofie weinte.
„Ich wünsche dir von ganzem Herzen eine tolle Zeit in Bolivien“, sagte Nora. „Schade nur, dass du nicht bei unserer Hochzeit dabei sein wirst.“
„Also eigentlich“, sagte Sofie, „brauche ich ja bloß ins Flugzeug zu springen.“
„Das würdest du tun?“
„Auf jeden Fall. Welchen besseren Grund könnte ich für einen Heimaturlaub haben?“
„Das würde mich ungeheuer freuen.“
Nora drückte Sofie so überschwänglich, dass sie fast von der Mauer gefallen wären.
„Hey, Vorsicht!“, rief Sofie und lachte über Noras Übermut.
Während sie einander umschlungen hielten, keimte in Nora eine Idee. Eine Idee, die bisher außerhalb des Möglichen gelegen hatte, sich jetzt jedoch richtig anfühlte.
„Weißt du, was mich sogar noch mehr freuen würde?“, fragte sie.
„Was denn?“
„Wenn du meine Brautjungfer wärst.“
Sofie sprang von der Mauer. „Echt jetzt?“
Nora stand ebenfalls auf. „Willst du?“
„Bist du irre!“ Sofie fasste sie an den Händen. „Logisch will ich. Ich als Brautjungfer, voll krass.“
Im Hotel tobte das Fest. Aber nichts hätte für Nora feierlicher sein können als diese neu erwachte Verbundenheit mit ihrer Schwester. Sie hatten so viel aufzuholen.
„Wie sieht es eigentlich bei dir in Sachen Liebe aus?“, fragte Nora. „Gibt es jemand Besonderen?“
Sofie winkte ab. „Vor den Altar trete ich in nächster Zeit jedenfalls nicht. Ich verstehe, warum dir das wichtig ist, Hochzeit und Kinder kriegen. Ist nicht mein Ding.“
Nach dem Scheidungsdesaster wunderte das Nora nicht. Für sie selbst war es anders. Zum einen weil sie Steffen liebte und unbedingt eine Familie mit ihm wollte. Zum anderen weil sie schaffen wollte, was ihren Eltern nicht gelungen war.
„Hier und da läuft mal was“, fuhr Sofie fort. „Nichts Ernstes. Ich will noch so viel erleben, fremde Länder sehen, Kulturen kennenlernen. Ich hab keinen Bock, meine Freiheit für irgendjemanden aufzugeben. Keine Ahnung, ob ich das überhaupt mal will.“
„Vielleicht musst du erst dem Richtigen begegnen.“
Sofie verzog das Gesicht. „Ach, komm mir nicht mit dem Märchen. Ich find das ja derbe romantisch mit dir und Steffen, nur …“
Neben ihnen raschelte es im Gebüsch.
„Hast du das gehört?“, fragte Sofie. „Was war das?“
Nora konnte im Dunkeln nichts entdecken. „Ein Hase?“
„Das klang zu groß für einen Hasen.“ Sofie nahm Noras Arm. „Lass uns lieber wieder reingehen.“
Nora hatte sich die ganzen Tage in dieser Gegend sicher gefühlt. Jetzt fand sie es leichtsinnig, dass sie sich so weit vom Hotel, dem Licht und den Leuten entfernt hatten. Wer wusste, wer sich zwischen den Bäumen und Büschen verbarg? Hilferufe hätten ihre Verwandten bei der lauten Musik wahrscheinlich nicht gehört.
„Okay, gehen wir.“
Kaum hatten sie einen Schritt gemacht, als unter wilden Schreien eine Gestalt aus dem Busch sprang.
5
Die Gestalt stürzte auf sie zu. In der Hand hielt sie eine Keule, zum Schlag erhoben. Nora stellte sich vor Sofie, bereit, auf den Angreifer einzuschlagen, einzutreten, alles zu tun, um ihn von ihr fernzuhalten.
Zum Glück war das nicht nötig. Er stolperte über seine eigenen Füße, ruderte mit den Armen und ging zu Boden. Mit gackerndem Gelächter wälzte er sich im Gras.
Verdutzt beugte Nora sich über ihn. „Andi?“
Sofie schüttelte den Kopf über ihren betrunkenen Cousin. „Scheiße, du bist so ein Spinner.“
Andi klopfte sich vor Lachen auf die Schenkel. Seine blonden Zotteln hingen ihm ins Gesicht. „Oh Mann, war das geil. Eure Gesichter! Der absolute Knaller.“
„Das war überhaupt kein Knaller“, sagte Nora. „Du hast uns zu Tode erschreckt.“
„Seid froh, dass ich das war.“
Andi rappelte sich auf. Schwankend zerrte er an seiner Krawatte. Sein Anzug war zerknittert und voller Gras- und Erdflecke. Blätter und Ästchen hatten sich in seinem Haar verfangen. Die Keule war in Wahrheit eine Sektflasche.
„Es ist verdammt gefährlich hier draußen“, sagte er, ein Lallen in der Stimme. „Vor allem für Frauen.“
Fast zerdepperte er die Flasche, als er sie in Richtung der Feldsteinmauer und der dahinterliegenden Dunkelheit schwenkte.
„Wisst ihr nicht, dass im Alten Land ein Irrer umgeht?“
„Doch, wissen wir“, sagte Sofie. „Er steht direkt vor uns.“
„Haha. Superwitzig. Nein.“ Andi kippte einen Schluck Sekt. „Gegen den bin ich harmlos.“ Er lehnte sich ihnen zu und flüsterte: „Hier treibt ein Mörder sein Unwesen.“
„Schwachsinn“, sagte Sofie.
„Kein Schwachsinn. Habt ihr noch nichts vom Bräutigam gehört?“
„Bräutigam?“, fragte Nora. „Klingt nach einer Gruselgeschichte.“
„Stimmt“, sagte Sofie. „Hast du dir die extra für die Goldhochzeit aus den Fingern gesogen?“
„Keine Geschichte“, sagte Andi mit der Vehemenz, mit der Betrunkene auf ihrem Standpunkt beharren. „Den gibt es wirklich. Seit Jahren verschwinden in dem Landstrich Frauen.“
Der Sekt schwappte in der halb vollen Flasche, als er sie ansetzte und einen langen Zug in sich hinein gurgelte. Es fiel Nora schwer, ihn ernst zu nehmen. Selbst nüchtern war Andi, der sich gern bekifft auf obskuren Websites herumtrieb, nicht unbedingt eine zuverlässige Informationsquelle. Im Vollrausch umso weniger.
„Das hätte ich mitgekriegt. In den Nachrichten kam nichts, und als ich für das Fest recherchiert habe, bin ich darauf auch nicht gestoßen.“
Andi schaffte es, gleichzeitig zu rülpsen und spöttisch zu lachen.
„Denkst du, das verbreiten die auf den Tourismusseiten, zusammen mit ihren Obstfesten, ihren Bauernhäusern und dem ganzen anderen Kram?“, lallte er. „Das ist keine Attraktion, mit der man für Familienurlaube wirbt. Die Zeitungen und Fernsehsender berichten natürlich über ihn, wenn er zuschlägt. Nach ein paar Wochen ist die Sensation verbraucht, und die Aufregung legt sich. Vor allem wenn die Ermittlungen schnell einschlafen, was jedes Mal so war. Deshalb gibt es überregional nur hin und wieder Berichte. Das rutscht einem schnell durch.“
Neben seinen anderen merkwürdigen Neigungen hatte Andi eine Vorliebe für True Crime, je makabrer, desto besser. Am liebsten gab er seine Kenntnisse zu den unpassendsten Gelegenheiten zum Besten, ungefiltert beim Abendessen oder am Kaffeetisch.
„Bisher sind dem Bräutigam vier Frauen in den letzten fünf Jahren zum Opfer gefallen. Er schnappt sie sich auf großen Feiern.“ Er deutete mit der Flasche zum Hotel. „Feiern wie diesen. Geburtstagspartys, Schützenfeste und so.“
„Red keinen Müll“, sagte Sofie. Es sollte verächtlich klingen. Aber sie schlang die Arme um ihren Körper und rückte näher an Nora.
„Ist alles wahr“, sagte Andi. „Der letzte Fall war Anfang des Jahres in einem Ort bei Hamburg.“
Noras Zweifel an Andis Geschichte schwanden. Am Hamburger Hauptbahnhof, wo sie und Steffen umgestiegen waren, hatte sie ein Vermisstenplakat mit dem Foto einer braunhaarigen Frau gesehen. An ihren Namen konnte sie sich nicht erinnern. Jetzt fragte sie sich, ob es diese Frau war, von der Andi sprach. Das letzte Opfer des Bräutigams.
„Hat die Polizei eine Ahnung, wer der Typ ist?“, fragte Sofie.
Bei Andis Kopfschütteln wackelte sein Zottelhaar. „Er begeht seine Verbrechen weit verstreut im Alten Land. Niemand hat den leisesten Schimmer, wer er ist oder wohin er die Frauen verschleppt. Bei den ganzen kleinen Dörfern und abgelegenen Gehöften – er könnte überall sein. Die Bullen können nur mit Gewissheit sagen, dass es in allen Fällen derselbe Kerl ist.“
„Woher wollen die das wissen?“, fragte Sofie. „Überhaupt, dass das Entführungen sind? Die Frauen könnten einfach durchgebrannt sein.“
Andi trank von seinem Sekt. Er genoss es sichtlich, dass er sie mit seiner Erzählung am Haken hatte.
„Wie jeder Serienmörder, der was auf sich hält, hat er eine Visitenkarte.“ Er wartete, damit sie nachfragten.
Nora tat ihm den Gefallen. „Was für eine Visitenkarte?“
„Zieht euch das rein“, sagte Andi. „Nachdem eine Frau verschwindet, erscheint im Elbkurier, so einem regionalen Käseblatt, eine Hochzeitsanzeige. Darin kündigt er seine bevorstehende Heirat mit der Vermissten an. Die Anzeige sieht immer gleich aus, mit zwei Eheringen, und es steht immer das Gleiche drin, nur die Frauennamen wechseln. Dadurch kann die Polizei ihn zuordnen, daher hat er auch seinen Spitznamen.“
„Klingt nach einem Vollpsycho“, sagte Sofie.
„Man muss doch zurückverfolgen können, wer diese Inserate aufgegeben hat“, sagte Nora.
„Schön wär’s. Die gehen anonym ein, ohne Hinweis darauf, von wem. Bestimmt ist er ein Leser dieser Zeitung oder sogar Abonnent. Der Elbkurier wird im ganzen Alten Land vertrieben. Da kommen also Tausende infrage. Die kann man nicht alle überprüfen, zumindest nicht ohne Verdacht. Den gibt es halt nicht. Der Typ ist ein Phantom. Die Behörden sind genauso ratlos wie die Bevölkerung und die Medien. Die Frauen verschwinden und tauchen nie wieder auf. Nicht mal ihre Leichen.“
Sofie schaute zum Hotel. Nora spürte, dass es ihre Schwester wie sie selbst zurückzog zu ihrer Familie im Saal. Sofie hatte jedoch offenbar die Neugier gepackt.
„Woher weiß man dann überhaupt, dass sie tot sind? Vielleicht hält er sie ja jahrelang gefangen und holt sich zwischendurch neue dazu.“
Nora schauerte bei der Vorstellung, sich so lange Zeit in der Gewalt eines Wahnsinnigen zu befinden. Der Tod kam ihr da fast vor wie eine Erlösung.
„Ganz einfach“, erklärte Andi. „Irgendwann nach der ersten Annonce erscheint eine zweite. Eine Traueranzeige, in der ein untröstlicher Ehemann den Tod seiner geliebten Frau verkündet. Hammer, was?“
„Krankes Schwein“, sagte Sofie.
„Das kannst du laut sagen. Jetzt schnallt ihr, warum die Bullen von einem Serienmörder ausgehen. Einem verdammt cleveren. Er stammt aus der Gegend und schnappt sich die Frauen auf den Feiern. So viel steht fest. Der Rest, sein Motiv, seine Identität, sein Aufenthaltsort, seine Vorgehensweise, ist ein Rätsel.“
„Scheiße, Andi.“ Sofie knuffte ihm die Schulter. Er geriet aus dem Gleichgewicht und hätte sich beinahe wieder auf den Hosenboden gesetzt. „Wenn hier ein Verrückter unterwegs ist, wäre eine kurze Warnung nett gewesen. ‚Vorsicht, freilaufender Serienmörder‘ oder so.“
Andi zuckte mit den Schultern. „Außer mir hatten noch ein paar andere von uns das auf dem Schirm. Die haben mich voll gestresst, das bloß für mich zu behalten, damit ich nicht die Stimmung runterzieh. Außerdem hättet ihr mich eh nicht für voll genommen, und selbst wenn: Das Fest hättet ihr auf keinen Fall abgeblasen.“
Nora musste zugeben, dass das stimmte. Sie hätte es als wirre Story abgetan, mit der er sich wichtigmachen wollte. Selbst wenn sie es ihm abgekauft hätte, hätte sie die Goldhochzeit nicht abgesagt oder verlegt. Schließlich hatten sich ihre Großeltern gewünscht, im Alten Land zu feiern. Außerdem fanden in der Gegend garantiert etliche solcher Veranstaltungen statt. Wie wahrscheinlich war es, dass es ausgerechnet ihre traf?
„Warum kommst du uns jetzt damit?“, fragte sie.
Andi grinste und prostete ihnen mit der Sektflasche zu. „Alk lockert die Zunge. Es hat mir die ganze Zeit unter den Nägeln gebrannt. Weil es der letzte Abend ist, dachte ich, scheiß drauf, ich hau das Ding raus. Ist doch cool, an einem Ort zu sein, wo so was Düsteres abgeht.“
Nora war anderer Meinung. Auf einen solchen Nervenkitzel hätte sie gut verzichten können.
Andi spähte um sich. „Vielleicht ist er hier und hat euch im Auge. Keine Sorge, ich beschütze euch.“
Da er durch den Sekt noch weiter in Schräglage geraten war, war das ein leeres Versprechen.
„Pass lieber auf, dass du nicht hackedicht in den Blumenbeeten landest“, sagte Sofie.
Sie lachte. Aber es klang verunsichert. Auch Nora fand es hier draußen zunehmend beklemmend. Die Dunkelheit jenseits der Mauer kam ihr noch finsterer vor, die Kälte eisig.
„Mörder hin oder her“, sagte sie. „Lasst uns endlich wieder reingehen.“
„Gute Idee.“ Sofie hakte sich bei Nora ein.
Sie marschierten durch den Garten zurück zum Hotel.
„Hey, wartet auf mich.“ Andi torkelte hinter ihnen her. „Ich hab keinen Bock, dass der Mörder mich holt.“
Nora warf ihm einen Blick über die Schulter zu. „Meinst du, du bist sein Typ?“
„Die Chance, dass er dich mit einer heißen Schnalle verwechselt“, sagte Sofie, „ist selbst im Dunkeln ziemlich gering.“
„Man weiß ja nie. Ich bin jedenfalls zu gern Junggeselle, um mich von einem Durchgeknallten zwangsverheiraten zu lassen.“
Zurück im Saal, bei den vielen Menschen und der Musik, holten sie sich frische Drinks. Der Tumult, der Nora vorhin zu viel gewesen war, tat ihr nun gut. Sie war nach wie vor nicht zum Tanzen aufgelegt. Kurzerhand zogen Sofie und Andi sie mit sich. Bald hatte Nora die Mördergeschichte vergessen. Mitten im lauten Getümmel waren solche Verbrechen ewig weit entfernt.
Irgendwann tauchte Steffen neben ihr auf. „Wo warst du? Ich habe dich überall gesucht.“
„Oh, tut mir leid. Ich war …“
Sie wies auf Sofie, die zur Bar gegangen war, um Nachschub zu holen. In jeder Hand ein Glas, unterhielt sie sich mit einem Mann. Ein heißer Schub durchfuhr Nora, als sie den unheimlichen Kellner erkannte. Sofie reckte den Kopf zu ihm hinauf und sagte ihm etwas ins Ohr.
„Der verfluchte Drecksack!“, sagte Nora.
Sie kämpfte sich zu Sofie durch und zog sie von dem dreisten Kerl weg. Über die Schulter warf sie ihm einen grimmigen Blick zu, den er mit starrer Miene hinnahm.
„Hey!“, rief Sofie, inzwischen auch deutlich angeheitert. Gin Tonic schwappte aus den Gläsern. „Ich komme ja schon, Schwesterherz!“
Sie reichte ihr einen der Longdrinks.
„Mein Gott, hast du so einen Brand?“
„Halt dich von dem fern“, sagte Nora. „Der ist mir nicht geheuer.“
Sofie lachte und schaute zu dem Kellner, der sie durch die Menge hindurch im Auge behielt.
„Keine Sorge, ich steh nicht auf ältere Typen.“ Sie riss in gespieltem Schrecken die Augen auf. „Oder glaubst du, das ist der Bräutigam? Fahr runter, Nora. Der ist ein bisschen creepy. Aber er wird mich schon nicht von der Feier weg entführen. Zumindest nicht, bevor er uns was zum Knabbern gebracht hat. An der Bar sind die Salzbrezeln aus.“
Sie gesellten sich zu Steffen.
„Hey, künftiger Schwager.“ Sofie hob ihr Glas. „Herzlichen Glückwunsch! Falls Nora es dir noch nicht erzählt hat, ihr habt eine neue Brautjungfer. Die coolste Brautjungfer ever.“
Steffens Unmut wich. „Im Ernst? Das ist ja super. Das heißt, ihr beiden habt euch ausgesprochen?“
Nora nickte.
„Logisch.“ Sofie schmiegte sich an Nora und küsste sie auf die Wange. „Wir sind doch die Superschwestern. Zusammen kriegen wir alles hin. Jetzt lasst uns diese Party rocken.“
Johlend hüpfte sie zurück auf die Tanzfläche.
Steffen drückte Noras Hand. „Ich freue mich für dich.“
Sofie drehte sich so schnell im bunten Scheinwerferlicht, dass der Saum ihres Kleids aufwirbelte. Sie winkte ihnen zu.
„Steht nicht da rum!“, rief sie. „Kommt schon!“
Sie folgten ihr auf die Tanzfläche. Während Nora versuchte, im Rhythmus zu bleiben, lehnte sie sich Steffen zu.
„Ich freue mich auch riesig!“, rief sie über das Wummern der Musik. „Endlich habe ich meine Schwester wieder. Ich merke jetzt erst, wie sehr ich Sofie vermisst habe, und bin froh, sie nie wieder vermissen zu müssen.“
6
Ein Platz am Tisch blieb frei. Am Morgen nach dem Fest hatten sich alle Verwandten zum Familienfrühstück im Speisesaal eingefunden. Einzig Sofie fehlte. Einige mutmaßten, sie schlafe ihren Rausch aus, nachdem sie gestern Nacht so übermütig gefeiert und getrunken habe. Cousinen und Cousins munkelten, sie sei vielleicht mit jemandem vom Personal abgestürzt und gönne sich statt Kaffee und Marmeladenbrötchen einen aufregenderen Start in den Tag.
Noras Großeltern nahmen es gelassen. Sie konnten ihrer Lieblingsenkelin sowieso nichts übelnehmen. Noras Eltern waren weniger versöhnlich gestimmt.
„Typisch Sofie“, sagte Noras Mutter an ihren Ex-Mann gewandt. „Unpünktlich und unzuverlässig. Du hast ihr immer zu viel durchgehen lassen. Da hat sie das her.“
„Du mit deinen ständigen Jammereien“, gab er über den Tisch zurück. „Das ist kein Grund, einen Aufstand zu veranstalten.“
„Ha! Als hättest du jemals einen Grund für einen Aufstand gebraucht. Bei jeder Kleinigkeit rastest du aus. Nur wenn es um Sofie geht …“
„Hört auf, in Ordnung?“, unterbrach Nora sie. „Beim Frühstück brauchen wir nun wirklich keinen Streit. Bald könnt ihr wieder getrennte Wege gehen. Seid so nett und reißt euch noch so lange zusammen.“
Ihre Mutter schnitt eine Grimmasse. Ihr Vater murmelte etwas und biss grimmig in sein Schinkenbrötchen.
„Wenn Sofie ein bisschen später dazustößt“, sagte Nora, „ist das kein Weltuntergang.“
Doch je länger ihre Schwester ausblieb, desto ungeduldiger wurde sie selbst. Schließlich war es das letzte große Beisammensein, bevor sich die Familie wieder in alle Ecken des Landes zerstreute. Oma Lydia und Opa Joseph war es wichtig, diese Stunden mit ihren Lieben zu verbringen.
„Glaubst du, sie schläft wirklich noch?“, flüsterte Nora Steffen zu, der mit einer Schale Müsli vom Büfett zurückgekehrt war.
„Das oder sie kämpft mit dem Kater, den sie garantiert hat.“ Er schnitt einen Apfel in die Haferflocken, Nüsse und Rosinen. „Ich brauchte zwei Aspirin heute morgen, und ich habe nicht so stark gebechert. Wenn sie so weit ist, wird sie eintrudeln.“
Andi, auf der anderen Seite des Tisches, hing schlaff in seinem Stuhl. Mit gelblichem Gesicht und tiefen Augenringen kippte er, statt zu essen, nur schwarzen Kaffee in sich hinein. Als er Noras Blick einfing, deutete er auf Sofies Platz, machte eine Krepiergeste und grinste.
„Gib nichts auf den Idioten“, sagte Steffen. „Oder sein Geschwätz.“
Nora hatte ihm gestern Nacht vom Bräutigam erzählt. Steffen hatte ebenfalls nichts davon gehört und wusste nicht, wie er die Story einschätzen sollte. Dass Andi selbst auf einer Goldhochzeit die Grenzen des guten Geschmacks überschritt, hatte ihn nicht überrascht.
„Selbst wenn da was dran ist, muss noch lange nichts passiert sein.“
Das war richtig. Bloß weil Nora vom Bräutigam erfahren hatte, hieß das nicht, dass Sofie entführt worden war.
„Er geht mir nur auf die Nerven mit seinem kindischen Schwachsinn.“ Sie zog ihr Handy hervor. „Ich schreibe Sofie mal, damit sie in die Gänge kommt.“
Auf WhatsApp sah sie, dass Sofie zuletzt vor mehreren Stunden online gewesen war, mitten in der Nacht. Auch das musste nichts bedeuten. Wahrscheinlich hatte sie ihr Handy ausgeschaltet, oder ihr Akku war leer. Das würde erklären, warum ihr Wecker nicht geklingelt und sie verschlafen hatte.
Nora versuchte, sich auf die Gespräche am Tisch zu konzentrieren. Aber sie konnte nicht anders, als immer wieder auf ihr Handy zu schauen.
Keine Antwort von Sofie. Sie hatte Noras Nachricht nicht einmal abgerufen.
„Wenn es dich so beschäftigt, geh nach oben, und sieh nach ihr“, sagte Steffen. „Ich halte die Stellung.“
Nora wollte nicht die bevormundende Schwester markieren. Doch dass Sofie das ganze Frühstück schwänzte, ging wirklich nicht. Außerdem war es der einzige Weg, ihre Unruhe loszuwerden. Sie stand auf.
„Okay. Vielleicht hat Sofie inzwischen geduscht und sich angezogen. Dann bringe ich sie gleich mit.“
Sie verließ den Speisesaal, durchquerte die Hotellobby und stieg die Treppe hinauf. Nachdem sie sich gerade erst versöhnt hatten, würde Sofie hoffentlich nicht sauer sein, wenn Nora sie aus den Federn holte. Sie würde Sofie von ihren Gedanken an den Bräutigam erzählen, und sie würden sich darüber kaputtlachen.
An Sofies Zimmertür hing das Bitte-nicht-stören-Schild. Das hieß, Sofie musste gestern Nacht hineingegangen sein und das Schild an die Klinke gehängt haben. Oder hatte sie das tagsüber getan und das Schild einfach hängen lassen? Nora konnte sich nicht erinnern, ob sie es vor der Feier gesehen hatte. Sie klopfte. Keine Antwort, kein Geräusch auf der anderen Seite der Tür. Nora klopfte noch einmal, fester.
„Sofie? Bist du wach? Tut mir leid, wenn ich dich wecke. Aber alle warten auf dich. Wir würden uns freuen, wenn du zum Frühstück dazukämst.“
War da etwas im Zimmer? Das Rascheln einer Bettdecke? Stimmen?
„Falls du Gesellschaft hast, verstehe ich, dass ihr für euch sein wollt. Nur würden Oma und Opa gern noch Zeit mit dir verbringen, bevor du abreist.“
Langsam kam sie sich blöd vor. Bei dem Krach, den sie veranstaltete, hätte sie Sofie selbst aus dem Tiefschlaf reißen müssen. Sie rief sie an, lauschte auf das Handyklingeln hinter der Tür. Nichts.
Eine Reinemachfrau schob einen Wagen mit Putzmitteln, Handtüchern und Klopapier über den Gang. Nora überlegte. Es gehörte sich nicht, in Sofies Zimmer einzudringen. Und auf keinen Fall wollte sie in ein Techtelmechtel platzen. Doch da sich Sofie nicht meldete, nahm ihre Anspannung zu. Sie musste wissen, ob mit ihr alles in Ordnung war.
„Entschuldigung“, sprach sie die Frau an. „Das ist das Zimmer meiner Schwester. Sie öffnet nicht und antwortet nicht. Wären Sie so nett, mir aufzuschließen, damit ich nachschauen kann, ob sie da ist?“
Die Frau wies auf das Schild an der Klinke. „Na, wenn sie da ist, will sie wohl nicht gestört werden. Außerdem kann ich nicht einfach Leute in fremde Zimmer lassen.“
„Bitte. Ich mache mir Sorgen.“
Sie konnte ihr schlecht die Mördergeschichte auftischen. Obwohl sie als Einwohnerin des Alten Landes bestimmt über den Bräutigam Bescheid wusste, hätte sie Nora wahrscheinlich für verrückt gehalten.
„Meine Schwester hat gestern ziemlich viel getrunken. Ich habe Angst, dass sie gestürzt ist und sich verletzt hat.“
Die Reinemachfrau seufzte und kramte ihre Generalschlüsselkarte aus der Tasche. „Sollte sich jemand beschweren, reden Sie mit der Hotelleitung.“
Sie entriegelte die Tür und zog mit ihrem Wagen weiter.
„Sofie? Bist du da?“ Nora trat ein. „Wenn ja, bist du allein?“
Nichts regte sich im Zimmer. Die Vorhänge waren aufgezogen. Morgensonne schien hinein. Das Bettzeug war zerwühlt. Niemand lag darin. Sofies Trekkingrucksack lehnte am Schrank. Klamotten quollen heraus, verwaschene Jeans, Cargohosen, ein Kapuzenpulli und T-Shirts mit den Logos von Indiebands. In einer Ecke ballte sich ein Berg Schmutzwäsche. Auf dem Nachttisch stand eine halb volle Flasche Club Mate neben einem Reiseführer für Südamerika und einem Spanisch-Lehrgang. Ein weiteres Buch lag aufgeschlagen neben dem Kopfkissen. Das Ende der Ehe. Trotz ihrer Sorge musste Nora schmunzeln. Passende Lektüre für eine Goldhochzeit.
Die Tür zum Bad war offen, das Licht darin aus. Nirgendwo ein Anzeichen, wann Sofie zuletzt hier gewesen war und wo sie sich aufhielt.
Nora eilte wieder nach unten. Auf dem Rückweg in den Speisesaal hielt sie an der Rezeption.
„Haben Sie heute morgen zufällig meine Schwester gesehen?“, fragte sie den jungen Mann hinter dem Tresen. „Sie sieht ungefähr aus wie ich, nur jünger.“
Er schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Ganz genau kann ich es nicht sagen, weil ich zwischendurch hinten im Büro beschäftigt war.“
„Okay, danke.“
Es konnte noch immer eine ganz normale Erklärung geben. Vielleicht hatte Sofie das Hotel mit jemandem verlassen, weil sie keine Lust auf einen One-Night-Stand in der Nähe ihrer Familie hatte. Wenn ja, mit wem?
„Eine Frage noch. Hier war gestern ein Kellner, mit dem meine Schwester zwischendurch gesprochen hat. Durchtrainiert, dunkles Haar, Seitenscheitel. Ich hatte das Gefühl, dass er ein Auge auf sie geworfen hat.“
„Wir legen höchsten Wert auf professionelles Betragen aller Angestellten während ihrer Schichten“, sagte der Rezeptionist. „Für das, was sie in ihrer Freizeit tun, übernehmen wir keine Verantwortung.“
„Mir geht es nicht um eine Beschwerde. Ich dachte, dass er etwas darüber wissen könnte, wo sie nach der Feier hin ist. Ich weiß auch nicht, ob er bei Ihnen arbeitet. Vorher habe ich ihn jedenfalls nicht gesehen.“
Der Rezeptionist schien erleichtert, dass der Ruf des Hotels nicht in Gefahr war.
„Zu unseren Festangestellten gehört er nicht“, sagte er. „Die kenne ich alle persönlich. Für größere Veranstaltungen wie Ihre beschäftigen wir Aushilfskräfte. Vorzugsweise Leute, von denen wir wissen, dass sie zuverlässig sind. Natürlich kommen auch neue dazu. Jemanden, auf den Ihre Beschreibung zutrifft, kann ich nicht nennen. Fragen Sie mal beim Cateringservice nach.“
„Danke“, sagte Nora.
Die Sorge, Sofie könnte etwas zugestoßen sein, konnte sie nicht mehr verdrängen. Sofie hing an ihren Großeltern. Selbst wenn sie die Nacht mit einem Liebhaber verbracht hatte, würde sie die beiden nicht am letzten Tag versetzen. Schon gar nicht, ohne sich zu melden. Der Kellner wurde noch verdächtiger dadurch, dass er im Hotel unbekannt war. Hatte sich Sofie trotz ihrer Beteuerungen auf ihn eingelassen, nachdem Nora und Steffen zu Bett gegangen waren? Oder hatte er ihr etwas in den Drink gemischt? Nora machte sich Vorwürfe. Sie hätte achtgeben müssen, dass Sofie heil in ihr Zimmer kam. Obwohl Sofie kein Kind mehr war, fühlte Nora sich verpflichtet, auf ihre kleine Schwester aufzupassen.
Sie rief Sofie noch einmal an.
Nichts.
Mit hastigen Schritten erreichte sie den Speisesaal. Am Tisch lehnte sie sich zu Steffen hinab, der sich gerade frischen Kräutertee eingoss.
„Hast du die Prinzessin aus ihrem Schlummer gerissen?“, fragte er.
„Sie war nicht in ihrem Zimmer.“ Nora sprach leise. Sie wollte niemanden beunruhigen, erst recht nicht ihre Großeltern, solange nicht feststand, dass tatsächlich etwas passiert war. „Der Rezeptionist hat sie nicht gesehen. Ich habe keine Ahnung, wo sie sein könnte.“
„Das muss nichts heißen“, sagte Steffen in seiner besonnenen Art. „Vielleicht ist sie früh raus, ohne dass es jemand mitgekriegt hat.“
„Wo sollte sie hingehen? Wenn sie einen Spaziergang unternommen hätte, wäre sie längst zurück. Wir sollten nach ihr suchen.“
Steffen pustete in seinen Tee. „Hältst du das wirklich für nötig?“
Aber er musste spüren, wie ernst es Nora war.
„In Ordnung.“ Er schlürfte einen Schluck und stand auf. „Wie ist der Plan?“
„Wir gehen das Hotel und den Garten ab“, sagte Nora, dankbar, nicht auf sich allein gestellt zu sein. „Wenn wir sie da nicht finden, schauen wir uns in der Umgebung um.“
„Klingt gut.“
„Nora, ist etwas nicht in Ordnung?“, fragte ihre Großmutter.
„Alles gut, Omi. Wir wundern uns nur, dass Sofie nicht da ist. Wir machen uns mal auf die Suche nach ihr.“
„Tut das. Es wollen sich ja auch Leute von ihr verabschieden.“
Andi trat zu Nora und Steffen.
„Was ist los?“, raunte er. „Ist Sofie abgehauen oder so?“
Er roch nach Alkohol, den er aus jeder Pore ausschwitzte.
„Wir wissen nicht, wo sie steckt, und sie geht nicht an ihr Handy“, sagte Nora.
„Scheiße.“ Seine unpassende Geste am Tisch bereute er jetzt offenbar. „Ich helfe euch.“
Nora nickte. „Okay, dann los.“
Sie teilten sich auf, blieben über Handy in Kontakt. Doch sie fanden Sofie weder im Garten noch im Fitnessstudio, am Pool oder sonst wo im Hotel. In der umliegenden Gegend, die sie mit dem Auto erkundeten, stießen sie ebenfalls auf keine Spur von ihr. Telefonisch erreichte Nora sie trotz etlicher Versuche nach wie vor nicht. Nachrichten blieben unbeantwortet.
Steffen und sie fuhren bis nach Jork, klapperten die Cafés und Geschäfte ab. Ohne Erfolg. Ratlos und aufgewühlt kehrten sie zum Hotel zurück. Inzwischen waren auch Noras Eltern und Großeltern besorgt. Sofie klinkte sich gern mal aus. Dass sie wie vom Erdboden verschluckt war, zumal am Tag der Abreise, passte nicht zu ihr. Es ließ sich nicht länger beschönigen. Irgendetwas war passiert. Es blieb ihnen nichts weiter, als die Polizei zu verständigen.
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